Kinder im Banne des Fernsehens

 VON HEDWIG SCHAFFER

 

Als Brennpunkt im Leben vieler Familien übt der Bildschirm gerade auf die jungen Zuschauer eine fragwürdige Faszination aus 

 

DER DREIJÄHRIGE Michael, ein Liebhaber von Wildwestfilmen, richtet zwei Spielzeugrevolver auf die Babysitterin und kräht: ,,Päng, päng!" Der Zweitkläßler Alex beschreibt seiner Lehrerin und den Mitschülern als schönstes Ferienerlebnis einen mit Mord und Totschlag gespickten Sandokan-Streifen. Ein Kindergärt1er gibt seinen Kamerädlein jeweils montags auswendig die populärsten Sendungen des Wochenprogramms von mehreren Sendern bekannt. Auf dem Spielplatz singen die Kleinen lauthals Viele, viele bunte Smarties oder spielen mit Stecken bewaffnet eine brutale Szene aus einem ,,Unterhaltungsfilm" nach.

 

Der Bildschirm hat sich des Kinderalltags in einem Maße bemächtigt, das vielen Eltern, Pädagogen, Ärzten, Psychologen und Soziologen bedenklich erscheint. Das Fernsehen erreicht über 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung; ein Viertel der Zuschauer sind keine 14 Jahre alt, und laut einer Untersuchung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft verbringen sie im Durchschnitt rund anderthalb Stunden im Tag vor dem ,,Glotzikon". Manch ein l6jähriger kann auf nahezu 8000 Fernsehstunden mit über 50 000 Werbespots und Hunderten von Morden zurückblicken. Die Mattscheibe hat ihn damit länger in Anspruch genommen als Spiel und Sport, Essen, Basteln oder Hausaufgaben - und sein Verhalten sowie seine Wertvorstellungen kaum weniger geprägt als der Einfluß seiner Erzieher.

 

Zweifellos wirkt sich der elektronische Guckkasten auch vorteilhaft aus. Fernsehkinder wissen in der Regel über Ereignisse in aller Welt besser Bescheid, verfügen über einen größeren Wortschatz und eine geschliffenere Aussprache - vor allem die jungen Freunde der deutschen Programme. Der Medienpädagoge Hanspeter Stalder aus Unterengstringen hält einzelnen Kinder- und Jugendsendungen unter anderem zugute, daß sie ,,zur Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Situation anregen, Konflikte bewußtmachen und bewältigen helfen sowie die Einseitigkeit der elterlichen Erziehungshaltung durch andere, ebenfalls verantwortbare Standpunkte erweitern. Doch die Nachteile überwiegen. Mit einer Flut von Verbrechen, Brutalitäten und Katastrophen weckt das Fernsehen bei den zuschauenden Kindern je nach Alter und Veranlagung den Nachahmungstrieb, verursacht Angst oder stumpft ab.

 

Schlechter Einfluß

Kriminalisten haben festgestellt, daß am Fernsehen demonstrierte Tricks sehr oft auch von Jugendlichen nachgeahmt werden. Michel Schwab von der Beratungsstelle für Verbrechensverhütung in Bern erwähnt als Beispiele das Abwürgen vorstehender Zylinderschlösser, das nach einer TV-Sendung zur Seuche wurde, sowie das häufig kopierte Aufbrechen bestimmter Autos durch das Bohren eines kleinen Loches in der Nähe des Kofferraumschlosses. In vielen Fällen - etwa beim zehnjährigen Berni, der seine Geschwister immer nach einer Schlägerei am Bildschirm anrempelt und boxt - führt das Gesehene zum Ausbruch latenter Aggressionen.

 

Zahlreiche Erwachsene unterschätzen die Angst, die Morde und Kriegsbilder, Folterungen, Vergewaltigungen sowie blutrünstige Ungeheuer aus Gruselfilmen in manchen kleinen Zuschauern erzeugen. ,,Vergessen Sie über dem eigenen Nervenkitzel nicht, daß Ihre Kinder mehr sehen und hören, als sie seelisch verkraften können", mahnt die Zürcher Diplompsychologin Sabine Lenz. Der vierjährige Urs reagierte auf ein Übermaß an ungeeigneten Sendungen mit Schlafstörungen und Appetitlosigkeit; diese Symptome verschwanden erst wieder nach monatelanger TV-Abstinenz.

Leider gewöhnen sich Dauerfernseher nach einiger Zeit derart an Greuelszenen, daß sie sich kaum noch über Gewaltanwendung und Gewalttäter empören oder die Opfer bedauern. Diese Abstumpfung endet bei totaler Gleichgültigkeit und der selbstverständlichen Annahme, daß Probleme nur mit Brutalität gelöst werden können. ,,Natürlich müssen wir die Kinder auf das Böse in dieser Welt aufmerksam machen", erklärt Beatrice Möri von der Bieler Arbeitsgruppe Kirche und Film. ,,Die übertriebene Darstellung von Verbrechen ist aber weniger dazu geeignet, vor Gefahren zu warnen; vielmehr zerstört sie den Glauben des Kindes an das Gute im Menschen."

 

Flimmernder Tyrann

Die Fernsehstunden reduzieren die Zeit, die den Heranwachsenden für das Lesen, für Spiel und Sport im Freien bleibt. Vielerorts läßt man sich von der Television richtiggehend tyrannisieren. Weil in der gemieteten Ferienwohnung der Flimmerkasten fehlte, kehrte eine Familie schon nach zwei Tagen aus den Skiferien heim. Die sechsjährige Petra machte eine Riesenszene und weigerte sich, ohne das gewohnte Gutenachtgeschichtlein zu Bett zu gehen.

 

Es liegt auf der Hand, daß wegen der faszinierenden Unterhaltungsmaschine in vielen Familien das Gespräch zu kurz kommt. Ehedem erzählte man einander beim Abendessen von den Erlebnissen des Tages; jetzt spricht der Apparat. Heftige Diskussionen gibt es allerdings, wenn der Vater eine Sportsendung und die Kinder zur gleichen Zeit auf einem andern Programm einen Wildwestfilm sehen wollen. ,,Ungeschickterweise wird der Fernsehapparat von den Eltern oft als Straf- und Belohnungsmittel mißbraucht", sagt Beatrice Möri. ,,Dies gibt ihm in den Augen der Kinder einen viel zu großen Wert."

 

Lehrer und Kindergärtner erfahren immer häufiger, wie übermäßiges Fernsehen sich auf ihre Zöglinge auswirkt. Eine Kindergarteninspektorin aus dem Kanton Zürich erklärt: ,,Wenn ich montags Kindergärten besuche, fallen mir die Bildschirmsüchtigen sofort auf; sie sind übermüdet und kaum ansprechbar - oder erzählen im Gegenteil ausschließlich von den Wochenendsendungen." Die kleinen Mädchen spielen nicht mehr so intensiv mit Puppen, und die meisten Kindergärtler und Primarschüler mögen während zunehmend kurzen Zeitspannen bei einer Beschäftigung verweilen. ,,Nach einem Regensonntag vor dem Fernsehapparat hat ein Kind so viele unverarbeitete Eindrücke gesammelt, daß seine Aufnahmefähigkeit gesättigt ist und es Mühe hat, sich zu konzentrieren", konstatiert der Jugendpsychologe Beat Stöcker von der Kantonalen Erziehungsberatungsstelle in Biel. Weshalb soll es sich in der Schule beim Lernen anstrengen, wo doch die Television so bequem Information vermittelt und am Ende der Sendung eine Lösung serviert?

 

Passive Generation

Wer von klein auf immer nur zuschaut, wird höchstwahrscheinlich sein Leben nie aktiv gestalten. Schon als das Fernsehen in unserem Land erst ein paar Jahre alt war, stellte der Psychiater Carl Gustav Jung fest: ,,Vielen Kindern wird von außen so viel zugeführt, daß sie sich nicht mehr auf etwas, das sie aus sich tun könnten, besinnen müssen. Die infantile Abhängigkeit vom Außen wird fortwährend verstärkt und womöglich fixiert in der bekannten Einstellung' daß jede Unzukömmlichkeit von Staates wegen abzuschaffen sei." Doch wie sehen es die Kinder selbst? Ihre Kommentare sind alles andere als erfreulich.

 

,,Ich finde es toll, wenn die ein altersgemäßes Angebot an Sachinformationen und Erlebnis-programmen wichtig", erläutert Georges Ammann' Sachbearbeiter für Medienpädagogik am Pestalozzianum in Zürich. ,,Damit gelingt es, ein Gegengewicht zu jenen Familien-, Abenteuer-, Western- und Krimiserien zu bilden, die den Kindern ein falsches, weil verzerrtes und kaum ohne fremde Hilfe überprüfbares Bild der Realität vermitteln." Der Mittel- und Oberstufe angemessen sind etwa Kindernachrichten, Was man weiß und doch nicht kennt, Serie über Serien, Berufsbarometer und Movie Club (alle DRS), Schülerexpreß und Kinder rund um die Welt (beide ZDF). Bei weniger geeigneten Sendungen haben oft eine oder zwei elterliche Bemerkungen eine gute Korrekturwirkung.

 

Kurz - es geht für die Eltern nicht in erster Linie um das Problem: ,,Sollen die Kinder fernsehen oder nicht?" Die Frage muß vielmehr lauten: ,,Was schauen sie sich an - und mit wem?"

 

Das Jugendressort des Fernsehens DRS hat mit schulischen Institutionen einen sogenannten Medienverbund entwikkelt, der den Verleih bereits ausgestrahlter medienkritischer Programme samt Begleitmaterial ermöglicht - für Schulen, Erwachsenenbildung und Elternabende. Interessenten wenden sich an die AV-Zentralstelle am Pestalozzianum, Beckenhofstraße 31-37, 8006 Zürich, oder an das Filminstitut Bern, Donnerbühlweg 32, 3012 Bern.

 

Aus DAS BESTE aus Reader's Digest ca. 1980

 

 

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